von Rechtsanwalt Christoph Rühlmann aus Düren, zugleich Fachanwalt für Strafrecht
erschienen in der DNS 03/2016
In der ersten Veranstaltung nach Aufnahme meines Studiums hat einer unserer Juraprofessoren in seiner Antrittsvorlesung ein paar Sätze zur Gestaltung der Studienzeit gesagt, die mich so beeindruckt haben, dass ich sie heute noch auswendig aufsagen kann, auch wenn man mich nachts um Drei aus dem Bett holen würde: „Nutzen Sie die Studienzeit, um sich für andere Dinge zu begeistern. Informieren Sie sich. Seien Sie kritisch!
Lernen Sie die Welt kennen! Lernen Sie andere Menschen kennen und versuchen Sie über den Tellerrand hinauszuschauen! Jura ist nicht alles. Wer das studiert, braucht weder besonders intelligent zu sein, noch fleißig im Übermaß!“
Es sind heuer nicht wenige Politiker, Diplomaten und Juristen in Europas Ämtern, denen man wünschte, sie hätten diese Antrittsvorlesung hören können und die Ratschläge des Professors beherzigt, ein wenig mehr von der – anderen – Welt zu sehen und zu begreifen. Auch mit verschiedenen, aus anderen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnissen stammenden Menschen diskutiert, gefeiert – auch gestritten – zu haben, hätte helfen können.
Der Soziologe und Ökonom Max Weber hat Anfang des vorigen Jahrhunderts, in einem Entwurf der kommenden – auf Kapitalakkumulation fixierten – Zivilgesellschaft, die Menschen in zwei Gruppen unterschieden: Den „Fachmenschen ohne Geist“ und den „Genussmenschen ohne Herz“. Der „Fachmensch ohne Geist“, in der Logik Max Webers, beschreibt den Typus Mensch, der obwohl in seinem Beruf hochgebildet, den Blick nicht über den Tellerrand hinweg zu heben vermag. Denjenigen, der sich selbst nicht hinter eine Sache zurückzustellen vermag und der gegebene Tatsachen nicht als solche
akzeptieren kann. Kurz, ein Mensch, dem moralische Integrität nahezu vollständig abgeht. Diese, grob gerasterte, Unterscheidung der kommenden Menschenbilder war in ihrer Zuspitzung wohl bereits zu Max Webers Zeiten eine Provokation. Aber, dass es den „Fachmenschen ohne Geist“ auch heutzutage in viel zu großer Stückzahl gibt, diesen Nachweis liefern gerade manche Politiker und Bürokraten Europas. Gemeint seien jene, die sich vermutlich nicht auch nur ein wenig dafür schämen, Verantwortung dafür zu haben, dass Zehntausende Menschen auf der Flucht, in einer Vielzahl Frauen und Kleinkinder, in dreckstarrenden Zeltunterkünften an der griechisch- mazedonischen Grenze und anderenorts festsitzen. Lumpen am Leib, nasses ausgetretenes Schuhwerk an den Füßen, unterkühlt und teilweise unterernährt. Wie viel Chuzpe und Kaltblütigkeit braucht es, um so etwas verantworten zu können?
Wenn der UNO Generalsekretär Bank Ki-moon geißelt, das Aufhalten der Flüchtlinge an der Grenze Mazedoniens und die Weigerung vieler EU-Staaten Flüchtlinge in größerem Umfang aufzunehmen, verstoße gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, hat er sicher Recht. Damit entfällt andererseits aber, aus juristischem Blickwinkel, auch jeder zu Gehör gebrachte Rechtfertigungsgrund für das, was beispielsweise den Flüchtlingen in Idomeni an der mazedonischen Grenze zur Zeit widerfährt. Was dort geschieht, ist mit dem Einmaleins unseres Strafrechts unschwer zu taxieren. Und – wie mein Professor dereinst sagte, für Jura muss man weder besonders intelligent, noch besonders fleißig sein.
Nach deutschem Strafrecht sind Straftatbestände erfüllt, wenn Menschen – rechtfertigungslos und vermeidbar – an einem Grenzübergang in Lagern hungern, frieren, womöglich demnächst auch sterben. Eine Körperverletzung gemäß § 223 StGB, so lernen es bereits die Erstsemester-Studenten in gestelztem Deutsch, ist eine: „Üble unangemessene Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden nicht nur unerheblich beeinträchtigt wird“. Sie lernen
auch, dass der oder die Täter nicht zwingend selbst „Hand anlegen“ müssen. Auch wer es unterlässt gebotene Handlungen vorzunehmen, kann bestraft werden. Ebenso wie jener, der nicht selbst, sondern durch andere handelt, wie also derjenige, der eine Maßnahme in einer Befehlskette anordnet oder organisiert. Gemessen an dem, es liegt auf der Hand, scheint nach unserem Strafrecht, der Tatbestand vieltausendfacher Körperverletzung erfüllt. Mit dem Tod durch Unterkühlung, Verhungern oder Verdursten an der Einreise gehinderter Flüchtlinge, in den Lagern oder auf den Landstraßen, würde sich das juristische Spektrum dann erweitern, um die Prüfung von Körperverletzung mit Todesfolge (§ 226 StGB), Totschlag (§ 212 StGB) und Mord (§211 StGB). Dass es aber in Deutschland zu Strafverfahren kommen wird, ist derzeit nicht absehbar. Die „Fachmenschen ohne Geist“ werden also weiterhin ruhig schlafen können. Eine Strafgewalt deutscher Gerichte wegen solcher Delikte, welche im Ausland von nicht deutschen Staatsangehörigen, begangen werden, ist prinzipiell nicht gegeben. Das ist übrigens keine Selbstverständlichkeit. Nach dem sogenannten „Weltrechtsprinzip“ können beispielsweise ausländische Drogendealer wegen im Ausland begangener Drogendelikte, in Deutschland vor Gericht gestellt und verurteilt werden (§ 6 Nr. 5 StGB). Der Umstand, dass ein Mörder mit nicht deutscher Staatsangehörigkeit gegenüber dem ausländischen Dealer bei Auslandstaten privilegiert wird, mag nicht nur dem Rechtslaien unerklärlich erscheinen.
Aber wenigstens auf Eines scheint Verlass zu sein: Die Geschichte wird dereinst ihr Urteil über den Umgang Europas mit den Flüchtlingen dieser Zeit sprechen. Es bleibt zu hoffen, dass die Bilder der weinenden Flüchtlingskinder von Idomeni, denen von der mazedonischen Grenzpolizei vor dem Stacheldrahtzaun Tränengas in die Augen gesprüht wurde, von der Welt so schnell nicht vergessen werden!