von Rechtsanwalt Christoph Rühlmann aus Düren, zugleich Fachanwalt für Strafrecht
erschienen in der DNS 03/2018
Mit der Deutschen Bahn verband ihn eine Art Hassliebe. Er fand, es gehöre schon eine gesunde Portion Galgenhumor und Schicksalsergebenheit dazu, um sich an die ständigen Verspätungen im Bahnverkehr zu gewöhnen.
Gerade dann, wenn er Anschlusszüge bekommen musste und wichtige Termine hatte, wurden diese zu einer ständigen Nervenprobe, die ihn manchmal, so schien es ihm, mehr Kraft kostete, als die Härten eines stressigen Arbeitstages für sich gesehen.
Darüber hinaus gaben ihm die vielen Fahrten in den blau gepolsterten ICE-Großraumwagen nicht gezählte unerwünschte Einblicke in die Geschäftsprinzipien, Ehekrisen und andere Privatdinge seiner Mitreisenden, weil sie diese so penetrant lautstark in die verbrauchte Luft der bahnreisenden Schicksalsgemeinschaft entäußerten. Wer aber, so wie er, auf eigene Faust gerne die Länder Asiens und Südamerikas bereist hatte, der störte sich weniger an den grunzenden Schnarchgeräuschen des Sitznachbars oder jenen Körperausdünstungen, die darauf schließen ließen, dass sich die letzte Grundreinigung des eigentlich sonst freundlichen Mitvierzigers auf dem gegenüberliegenden Platz der Vierersitzgruppe, schon einige Tage zuvor ereignet haben musste. Andererseits bot ihm eine Bahnreise natürlich auch die Möglichkeit, seine beruflich knappe Zeit sinnvoll zu nutzen. Mittlerweile funktionierte ja sogar das WLAN in den ICEs ganz passabel. Manchmal las er auch einfach ein gutes Buch, um dann alsbald tief einzunicken und sich die bleierne Müdigkeit aus den Knochen zu schlafen. Genau das hatte er auf einer der angenehmeren Bahnfahrten der letzten Wochen und Monate dann auch getan und war in Vorfreude seines bevorstehenden Urlaubs tief entschlummert. Das Erwachen war jäh! Aus allen Träumen wurde er durch schnaubendes Husten und Niesen geweckt und beobachtete durch das halb geöffnete linke Auge seinen neuen Sitznachbarn, der während seines Erholungsschlafes auf dem gegenüberliegenden Platz der Vierersitzgruppe Platz genommen hatte. Das Auge schloss er aber wieder schnell, als ihm nach einem neuerlichen stakkatoartigen Hust- und Niesanfall feiner Sprühnebel ins Gesicht stäubte. So vergingen nun die restlichen zwei Stunden bis zum Erreichen der Stadt, in der sein Geschäftstermin stattfinden sollte. Wie gerne hätte er den Sitzplatz gewechselt! Später überlegte er, ob er dies unterlassen hatte, weil er nicht unhöflich sein wollte oder aber schlicht befürchtete in einem anderen Abteil keinen freien Sitzplatz mehr zu finden. Er hätte sich selbst ohrfeigen können! Spätestens dann, als sein Gegenüber Taschentuch um Taschentuch in dem silbrigen Klappaschenbecher am Fenster versenkte, die dem Gebrauch gewidmet wurden bis die Zellulose Nässe und Schmodder endgültig nicht mehr halten konnte, hätte er den Platz wechseln sollen. Er hatte da bereits gewusst, was ihn in den nächsten Tagen erwarten würde. Er sollte sich nicht täuschen! Die „Verwandlung“ kam bereits über Nacht.
Mit der Beantwortung der Frage, was Mahatma Gandhi, jener hartnäckige Pazifist, der den Briten 1947 endgültig den Spaß an ihrer indischen Kolonie verdarb und zum Abzug nötigte und Franz Kafka, das Schriftstellergenie aus Prag gemeinsam haben, werden sich die meisten Zeitgenossen sicher schwertun. Gut, beide lebten in derselben Zeit, aber eben auf verschiedenen Kontinenten und in völlig unterschiedlichen sozialen und politischen Systemen. Die Antwort ist: Beide erkrankten an jener Krankheit, die traurige Berühmtheit unter dem Namen „Spanische Grippe“ erlangte und vor 100 Jahren als unselige Begleiterin eines Weltkrieges die Menschheit zusätzlich in den Grundfesten erschütterte. Zwischen dem ersten Krankheitsfall, der am 4. März 1918 gemeldet wurde und dem letzten, im März 1920, tötete diese Grippe 50 bis 100 Millionen Menschen, was seinerzeit 2,5 bis 5 Prozent der Weltbevölkerung entsprach. Der Name „Spanische Grippe“ entstand deshalb, weil die ersten Nachrichten über diese Grippe, die sich weltweit verbreitete, aus Spanien kamen. Wirkungsvolle medizinische Heilmittel standen seinerzeit nicht zur Verfügung. Ihr zum Opfer fielen so prominente Menschen, wie der Unternehmer und Großvater Donald Trumps, Frederik Trump, der im Mai 1918 in New York City verstarb sowie der deutsche Ökonom und Philosoph Max Weber, den die Grippe am 14. Juni 1920 dahinraffte.
In der heutigen Zeit gibt es im Vergleich zu früher natürlich einen stark verbesserten medizinischen Radius zur Vorbeugung gegen, – und Behandlung von Grippe. Aber immer dann, wenn wieder eine Grippewelle mit Wucht anrollt, kommen die Einschläge näher, bis beinahe jeder, sofern es ihn nicht selbst getroffen hat, über Krankheitsfälle im Bekannten- und Familienkreis berichten kann. Focus-Online berichtet in diesen Tagen, dass bis zum 19. Februar diesen Jahres, die Zahl der Toten der jüngsten Grippewelle, bundesweit auf 102 gestiegen sei.
Juristen denken oft in Förmchen. Das bedeutet im Konkreten, dass versucht wird einen bestimmten Sachverhalt oder ein menschliches Verhalten, so wie es sich im Alltag zuträgt, einer Gesetzesvorschrift zuzuordnen. Der Strafrechtler nennt dies in gestelztem Deutsch „Subsumieren“. Den Tatbestand der Körperverletzung des § 223 StGB versteht er, als eine „üble unangemessene Behandlung, durch die das äußerliche Wohlbefinden nicht nur unerheblich beeinträchtigt wird.“ Ein interessantes juristisches Gedankenspiel verspricht nun die „Subsumtion“, ob der grippekranke Zeitgenosse den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt, der mit dem Wissen die Grippe zu haben, verstopfte öffentliche Verkehrsmittel benutzt, im Rewe in die Früchtetheke niest oder seine Influenzaviren zeitlich ausgedehnt im Großraumbüro emittiert. Gerichtsurteile hierzu gibt es scheinbar noch keine, was eigentlich erstaunt. Der Vergleich mit der Ansteckung durch HIV-Viren mag zwar hinken, da in diesen Fällen regelmäßig im Zuge des Geschlechtsverkehres, also bei einem intimen zwischenmenschlichen Akt, die Übertragung erfolgt. Darüber hinaus ist eine HIV-Erkrankung mit der Ansteckung durch den Influenza-Virus von der Intensität der Gesundheitsbeeinträchtigung her nicht vergleichbar. Der gemeinsame Nenner bleibt aber der, dass Viren von einem Menschen auf einen anderen übertragen werden und die Übertragung des Virus von dem erkrankten auf den gesunden Menschen, in manchen Fällen von der Kenntnis des Übertragenden umfasst ist, dass er einen oder mehrere gesunde andere Menschen anstecken kann. Zur wissentlichen Ansteckung mit dem HIV Virus gibt es bekanntermaßen zahlreiche strafrechtliche Urteile. Wendet man die strafrechtliche Definition einer Körperverletzung auf die zumindest bedingt vorsätzliche Ansteckung von Mitmenschen mit Grippe in stark frequentierten Räumen an, so besteht eigentlich kaum ein juristischer Zweifel daran, dass der Tatbestand der Körperverletzung erfüllt ist. Ich finde aber sicher nicht, dass in solchen Fällen das Strafrecht die richtige Antwort wäre, um solcherlei zu sanktionieren. Auch braucht es keine Quarantäne oder „noli me tangere“ (Rühr mich nicht an) – Blicke der Gesunden zu den Kranken. Verlangen kann man aber wohl schon, dass im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren, Rücksicht geübt wird. Dazu zählt vielleicht auch, in Arztpraxen und Kliniken im Wartezimmerbereich Sorge dafür zu tragen, dass Kranke mit einer Grippe, Patienten mit anderen Leiden nicht anstecken können.
Unser im ICE infizierter Reisender ist zwischenzeitlich natürlich wieder genesen. Mit dem Versprechen an sich selbst, nie wieder aus falscher Höflichkeit seinen Platz im Zug dann nicht zu wechseln, wenn in den Hochzeiten der Grippe der Sitznachbar rotzt, schnaubt und niest. Er hat sogar der Versuchung widerstanden, in der Tretmühle des Alltags wie gewohnt weiterzustrampeln und sich zwei Tage im Krankenbett auskuriert. Vielleicht hat er dabei an Mahatma Gandhi gedacht, dem der Satz zugeschrieben wird: „Es gibt wichtigeres im Leben, als beständig dessen Geschwindigkeit zu erhöhen.“