von Rechtsanwalt Christoph Rühlmann aus Düren, zugleich Fachanwalt für Strafrecht
erschienen in Strafverteidiger 2016, Heft 8, 488, 489.
Anmerkung*:
I. Einführung:
Auch wenn es keinen Grund gibt, ein lautes Halleluja auszustoßen, ob der Entscheidung des LG Dessau-Roßlau, dem Angeklagten auf seinen Antrag hin einen weiteren Pflichtverteidiger beizuordnen, obwohl bereits zwei Pflichtverteidiger bestellt waren, ist der Beschluss doch bemerkenswert. Dies nicht nur deshalb, weil die Beiordnung von gleich drei Pflichtverteidigern eine Rarität ist, die bislang sehr selten praktiziert wird, sondern vor allem, weil die Beschlussbegründung durch ein, was Verteidigungsrechte angeht, selten gewordenes dialektisches Verständnis besticht. So findet sich in der Rechtsprechung – aber auch der Literatur – kaum eine Reflexion dessen, wie sich die „Kräfteverhältnisse“ zwischen Verteidigung und Gericht in Verfahren definieren, in denen der Prozessstoff von so außergewöhnlichem Umfang ist, dass die Bearbeitung und Durchdringung der Akten von einem Verteidiger faktisch kaum zu bewältigen ist.
II. Zum Thema:
Diese Problematik betrifft zum einen die Sachbearbeitung der Strafsache im Vor- und Zwischenverfahren sowie die Vorbereitung der jeweiligen Hauptverhandlung zwischen den Verhandlungstagen. Aber auch die Wahrnehmung der Verteidigung in der Hauptverhandlung selbst, das Verfolgen der Beweisaufnahme, die Fertigung einer Verhandlungsmitschrift, die Befragung von Zeugen bei gleichzeitiger Aufmerksamkeit für spontane Wünsche und Gedankenäußerungen des Mandanten und das Erhalten eines konzentrierten Augenmerks auf mögliche Verfahrensverstöße in der Verhandlungsführung, sind in schwierigen und umfangreichen Strafverfahren als „One-Man-Show“ eines einzelnen tapferen Verteidigers kaum mit der erforderlichen Verteidigungsqualität zu leisten.
Es stellt sich hier, jedenfalls dann, wenn der Angeklagte selbst nicht in der Lage ist, sich selbst mehrere Verteidiger finanziell leisten zu können, die Frage nach der „Fairness des Verfahrens“. Wie viel taugt eine Verteidigung durch einen einzelnen Verteidiger, die sich durch immensen Prozessstoff zu kämpfen hat, den eine Strafkammer mit drei Berufsrichtern abarbeitet und zu einem Produkt verwertet, wenn ihr dasselbe, nur mit anderer Zielrichtung abverlangt wird? Es erstaunt hier, dass die Beiordnung mehr als eines Pflichtverteidigers in den allermeisten einschlägigen Judikaten ausschließlich mit der Notwendigkeit der „Sicherung des Verfahrens“ begründet wird.[1] Gilt hier nicht mehr der Grundsatz, dass der pflichtverteidigte Angeklagte vom Grundsatz her dem Angeklagten gleichgestellt werden soll, der seine Verteidigung selbst bezahlen kann? Dass also die Pflichtverteidigung keine Verteidigung minderer Güte sei, wie es der BGH formuliert hat.[2] Es mag im Einzelfall jenen Angeklagten geben, der eine Verteidigung selbst finanzieren kann und sich getreu des Mottos: „Viel, hilft viel“ mehrerer Anwälte bedient, obwohl die Verteidigung mit der ausreichenden Effizienz auch durch einen Anwalt geführt werden könnte. Die Regel ist dies aber nicht. Werden mehrere Verteidiger zur Vertretung in einer Strafsache mandatiert, dann eben zumeist aus der Erkenntnis heraus, dass ein arbeitsteiliges Arbeiten am Verteidigungsziel einen Qualitätsgewinn erzielen kann. An dieser Erkenntnis gemessen, kann die Erwägung, dem Angeklagten einen zweiten oder gar dritten Pflichtverteidiger in Verfahren besonderen Umfangs und/oder besonderer Schwierigkeit zu stellen, sich nicht allein am Gedanken der „Verfahrenssicherung“ orientieren.[3]
Hinzutretend wird zu berücksichtigen sein, ob lediglich ein Verteidiger zur Sicherung einer Verteidigungsqualität, die der Bedeutung der Sache für den Angeklagten gerecht wird, überhaupt ausreichend sein kann. Aus gutem Grund steigt die Anzahl der Berufsrichter nach den Regelegungen des GVG mit Bedeutung und Umfang einer Strafsache. Der Gedanke, ein Einzelrichter könne in unserem Rechtssystem im Erwachsenenstrafrecht komplexe Fallgestaltungen be- und ausurteilen, die für den Angeklagten mit zweistelligen Haftstrafen ihr Finale finden, erscheint absurd.
§ 76 Abs. 2 GVG regelt die Mitwirkung eines dritten Berufsrichters in Fällen mit besonderer Schwierigkeit, besonderer Bedeutung der Sache für den Angeklagten oder wegen des besonderen Umfangs der Sache, wobei § 76 Abs. 3 Nr. 1 ergänzend wirkt, indem konkretisiert wird, dass die „große Besetzung“ in der Hauptverhandlung dann beschlossen werden soll, wenn die Hauptverhandlung voraussichtlich länger als 10 Tage dauern wird. Die der personellen Aufstockung auf der Richterbank zugrunde liegende Ratio fasst Schlothauer so zusammen, dass der Tatsachenstoff intensiver und von mehreren Seiten gewürdigt und Rechtsfragen besser gelöst werden können.[4]
In der Konsequenz bedeutet dies nichts anderes, als eine mögliche Erhöhung der Qualität des Verfahrens, ebenso wie der Qualität des Urteils in der Beratung.[5]
III. Fazit:
Die Entscheidung des Landgerichts Dessau-Roßlau verdient Lob dafür, auch den Gesichtspunkt der notwendigen Qualität der Verteidigung, mithin die „Waffengleichheit“ in die Erwägungen zur Beiordnung eines dritten Pflichtverteidigers eingestellt zu haben. Die Entscheidung bezieht sich eben nicht nur auf das legitime Interesse des Gerichts (und des Angeklagten) an der Sicherung des Verfahrens, sondern formuliert unmissverständlich, dass eine regelmäßige Verteidigung durch mindestens zwei Pflichtverteidiger in der Hauptverhandlung aufgrund des Umfangs des Verfahrensstoffes geboten sei. Die Sicherstellung der Funktionsfähigkeit einer qualitativ genügenden Verteidigung kann dem Grunde nach nicht nur im Verantwortungsbereich ihrer selbst liegen. Die vom BVerfG vielfach angemahnte „prozessuale Fürsorgepflicht“ gebietet es dem Gericht, sein Augenmerk auch hierauf zu lenken. Diesem Anspruch wird die besprochene Entscheidung auch dadurch gerecht, dass sie eine Entpflichtung eines der bisherigen Pflichtverteidiger, wegen der Terminschwierigkeiten zu Beginn des Verfahrens, ablehnt und darauf abstellt, dass dessen Verfahrenskenntnisse die weitere grundsätzliche Mitwirkung am Verfahren als geboten erscheinen lassen würden. Eine Argumentation, die aus Sicht der Verteidigung zur Hoffnung Anlass gibt, dass die Mitwirkung mehrerer Pflichtverteidiger – unabhängig vom Gedanken an die „Verfahrenssicherung“ – zukünftig dann bereits zur Regel wird, wenn das Verfahren einen außergewöhnlichen Umfang hat. Als Richtlinie für einen solchen Umfang könne § 76 Abs. 3 GVG herangezogen werden, dass nämlich die Verhandlung an mehr als 10 Tagen stattfinden soll.
[1] LG Köln, Beschl. v. 13.08.2015 – 105 Qs 177/15; OLG Stuttgart, Beschl. v. 28.06.2013, 5 Ws 42-48/13 = StV 2014, 11 (12).
[2] BGHSt 47, 68 = StV 2001, 506.
[3] KG Berlin, Beschl. v. 20.09.2013, 141 AR 474/13, zit. n. juris.
[4] Schlothauer StV 2012, 749.
[5] S. a. Rissing-van Saan FS Krey, 2010, S. 442.