von Rechtsanwalt Christoph Rühlmann aus Düren, zugleich Fachanwalt für Strafrecht
erschienen in der DNS 06/2017
Habe ich den Titel dieses Artikels nicht schon mal irgendwo gelesen, wird sich mancher Leser spontan fragen. Das kann durchaus so sein. Zugegeben sei nämlich an dieser Stelle, dass diese Überschrift auch ein Sachbuch trägt, welches zurzeit in den Verkaufslisten recht weit oben rangiert. Gemeint ist das Werk von Max Steller, Professor für forensische Psychologie und der deutsche „Papst“ für die Glaubhaftigkeitsanalyse von Zeugenaussagen. Titel des Buches: „Nichts als die Wahrheit? Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann.“
Möglich ist aber auch, dass Sie von diesem Buch noch nie etwas gehört haben, Ihnen der Titel trotzdem bekannt vorkommt. Dann handelt es sich vielleicht um eine so genannte „Scheinerinnerung“, was meint, dass man glaubt sich an etwas zu erinnern, was in der Realität aber gar nicht passiert ist. Vielleicht haben Sie sich in der Vergangenheit bereits mit dem Thema der „Verurteilung Unschuldiger“ gedanklich auseinandergesetzt und deshalb meinen Sie den Titel schon einmal gelesen zu haben. Denn auch so können „Scheinerinnerungen“ entstehen. Die meisten hiervon sind ganz harmlos, aber es gibt auch jene, die Leben zerstören können. Davon soll hier die Rede sein.
Gerade im Strafprozess sind Aussage-gegen-Aussage-Situationen besonders fatal für denjenigen, der zu Unrecht einer Tat beschuldigt wird und diese bestreitet, sofern keine weiteren Beweismittel hinzutreten, die seine Unschuld belegen können. Diese Konstellationen sind gerade im Bereich des Sexualstrafrechts überproportional häufig anzutreffen. Die Gründe für Falschbelastungen sind vielschichtig. Rachsucht, Neid oder aber auch die falsche Erinnerung sind hier zu nennen.
Falschaussagen von Zeugen, die in eine falsche Verurteilung, ein sogenanntes Fehlurteil münden können, sind im Wesentlichen in zwei Varianten vorstellbar. Zum einen in der, der oben erwähnten „Scheinerinnerung“, bei der Suggestion die wesentliche Rolle spielt. Steller beschreibt das mögliche Entstehen einer „Scheinerinnerung“ bei Kindern so, dass mögliche sexuelle Handlungen durch Vorhalt von Bezugs- oder Ermittlungspersonen, nachdem zunächst nur ein vager Verdacht auf Missbrauch geschöpft war, immer wieder thematisiert wurden, bis sich im Laufe der Zeit beim Kind lebhafte Erinnerungen von den möglichen Geschehnissen einstellten (Max Steller, Nichts als die Wahrheit?, Heyne Verlag, S. 155 f.). Die andere Variante der Falschaussage ist die bewusste Lüge, d.h. die falsche Aussage mit dem Vorsatz, ein bestimmtes gewünschtes Ergebnis durch die falsche Aussage zu beeinflussen. Zum Beispiel, den untreuen und verhassten Ehemann mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu bestrafen. Kein übliches, aber auch kein exotisches Motiv! Selbstverständlich gibt es in der Praxis aber auch die Fälle, in denen Frauen durch Falschbezichtigungen ihrer (Ex)Partner in die strafgerichtliche Bredouille gerieten.
Für den Betroffenen macht es in der Regel keinen großen Unterschied, ob eine gegen ihn gerichtete unwahre Aussage, beispielsweise er habe sich an der minderjährigen Stieftochter vergangen oder aber den Geschlechtsverkehr mit der Ehefrau gegen ihren Willen durchgeführt, auf einer bewussten Falschaussage, also einer Lüge oder auf einer „Scheinerinnerung“ beruht. Für ihn steht nun im Vordergrund, dass bereits die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit einem solchen Tatvorwurf existenzvernichtend sein kann. Bei Verhängung einer mehrjährigen Freiheitsstrafe versteht sich dies ohnehin von selbst.
Seriöse Zahlen darüber, in wie vielen Prozent der Fälle es sich bei Aussage-gegen-Aussage-Verurteilungen um Fehlurteile handelt, kann es nicht geben. Es ist aber davon auszugehen, dass die Fälle, die in die Medien kommen und bundesweit bekannt werden, nur die so genannte „Spitze des Eisbergs“ darstellen. Nicht jeder Fall ist für die Medien so lukrativ wie der, des stets gut gelaunt daherkommenden sympathischen Wetterfrosches, dem eine betrogene und seelisch verletzte Lebensgefährtin einen Vergewaltigungsvorwurf andichtete, dessen zerstörerische Wirkung auch durch einen später mühsam erkämpften Freispruch nie wieder aufgehoben wurde. Oder jener Fall des Moderators Andreas Türck, dem eine Vergewaltigung von einer Dame „angehängt“ wurde,” die sich im Verlauf der Beweisaufnahme mehr und mehr in Widersprüche verstrickte, so dass nach langer stressbelasteter Beweisaufnahme Staatsanwaltschaft und Gericht zu dem Ergebnis kamen, die Anschuldigungen seien falsch. Der Freispruch konnte Türcks Karriere nicht mehr retten. Für viele Jahre gab es keine Beschäftigung mehr im Fernsehen für den Moderator.
Aus eigener Erfahrung erinnere ich mich selbst noch lebhaft an den Fall eines jungen Mannes, den ich vor einem hessischen Landgericht verteidigte. Er befand sich 8 Monate in der JVA Weiterstadt in Untersuchungshaft bevor das Landgericht ihn vom Vorwurf der Vergewaltigung freisprach. Eine junge Dame aus seiner Bekanntschaft hatte ihn bezichtigt, sie in ihrer Frankfurter Wohnung mehrfach vergewaltigt zu haben. Er widersprach dem Vorwurf vehement. Objektive Zeugen waren nicht vorhanden. Eine gynäkologische Untersuchung hatte nicht stattgefunden, da die Anzeige Wochen nach der vermeintlichen Vergewaltigung erfolgte. Uns Verteidigern gegenüber hatte der Angeklagte ein Alibi erwähnt; er sei zur Tatzeit nicht in Frankfurt gewesen, sondern in einem Hotel in Hanau, dessen Namen er aber nicht mehr wusste. Zunächst hatte das Gericht vor, die Beweiswürdigung aufgrund eigener Sachkunde vorzunehmen und kein aussagepsychologisches Glaubhaftigkeitsgutachten einzuholen. Auf massives Drängen der Verteidigung erfolgte dann doch die Beauftragung einer Sachverständigen, die zu dem Ergebnis kam, die Anschuldigungen des vermeintlichen Tatopfers seien erlebnisfundiert, was meint, die Vergewaltigungen hätten sich wie angeklagt zugetragen. Der Angeklagte und wir Verteidiger waren erschüttert. Hatte es doch diverse Widersprüche in den verschiedenen polizeilichen und gerichtlichen Aussagen der Frau gegeben, die die Sachverständige nun damit erklärte, die Angeklagte sei traumatisiert und habe vieles verdrängt. Bei dem Versuch Erinnerungslücken zu schließen, könne es zu gedanklichen Fehlleistungen kommen. Der Vorsitzende Richter hatte bereits vor Eintritt in die Beweisaufnahme Verteidigung und den Angeklagten mit der Ansage unter Druck gesetzt, dass eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als vier Jahren nur denkbar sei, wenn der Angeklagte die Taten gestehe und der „Geschädigten“ eine umfassende Zeugenaussage erspare. Erst als wir Verteidiger uns dann auf die Suche nach dem Hotel machten und dieses auch schließlich fanden, wo über EDV Buchungen ganz klar erkennbar war, dass der Angeklagte sich zur Tatzeit dort aufgehalten hatte, musste das Gericht ihn freisprechen. Der Vorsitzende machte bei der Verkündung des Freispruchs keinen erleichterten Eindruck, dabei sollte er doch eigentlich froh sein, keinem falschen Glaubhaftigkeitsgutachten aufgesessen zu sein und einen Unschuldigen für Jahre hinter Gitter gebracht zu haben. Die Sachverständige besaß sogar noch die Dreistigkeit ihr Gutachten zu verteidigen, obwohl es doch eigentlich nicht zu verteidigen gab. Im Ergebnis war es schlicht falsch. Wäre sie den von Max Steller entwickelten Methoden der Inhaltsanalyse der Aussagen der Zeugin und der Entstehungsanalyse, das heißt der Erforschung, wie die Aussagen entstanden waren, gefolgt, so wäre sie wohl zu einem anderen Ergebnis gekommen. Steller beklagt, dass es unter den von den Gerichten herangezogenen Sachverständigen, die für die Erstellung von Glaubhaftigkeitsgutachten herangezogen werden, immer noch viele gibt, die nicht nach den heutigen wissenschaftlichen Standards arbeiten. Er spricht in diesem Zusammenhang nicht von „Gutachtern“ sondern von „Schlechtachtern“.
Das Herausfiltern der Wahrheit ist manchmal mühselig, sollte aber von allen am Gerichtsverfahren Beteiligten mit dem erforderlichen Zeitaufwand und Fachwissen betrieben werden. Mein Frankfurter Mandant stand nach seinem Freispruch vor den Scherben seiner Existenz. Freunde und Bekannte hatten sich von ihm abgewandt, der Arbeitsplatz war verloren und seine Lebensgefährtin hatte sich von ihm getrennt. Immerhin: Für jeden Tag zu Unrecht erlittener Untersuchungshaft sieht das Gesetz 25 Euro Entschädigung vor. Der Rechtsstaat kann sich in diesem Punkt nicht lumpen lassen!